Robin war eines dieser Kinder, die immer eine Zielscheibe für andere sind. Er war klein und schmächtig, sehr schüchtern und manchmal stotterte er sogar. Weil er leicht rot wurde, riefen sie ihn Feuerlöscher, weil seine Ohren abstanden, nannten sie ihn Segelflieger, wegen seiner Brille musste er sich von den anderen Kindern als Brillenschlangebeschimpfen lassen.
Und er ließ sich all das gefallen. Es sind nur Wörter, dachte er, und die tun nicht weh. Außerdem war er es gewohnt, dass die anderen ihre Scherze mit ihm machten. Man gewöhnt sich an alles, auch an Beschimpfungen. Nur manchmal, wenn es zu schlimm wurde, dann wünschte er, dass eine Fee käme. Diese Fee wäre groß und mächtig, und sie würde ihm drei Wünsche schenken. Doch es kam keine Fee.
Schon im Kindergarten waren sie gemein zu ihm. Aber er hatte sich daran gewöhnt. Er hatte sich auch daran gewöhnt, allein zu spielen. Fand er mal einen Freund, so verlor er ihn meist schnell wieder. Immer wenn größere Jungen kamen und den Freund fragten: „Was, du spielst mit dem Feuerlöscher?“ Dann sagte der neue Freund erst gar nichts, dann lachte er, und dann zog er mit den großen Jungen ab.
Man gewöhnt sich an alles. Auch ans Alleinspielen. Sie brauchen eben einen Kleinen, auf dem sierumhacken können, dachte Robin. Und wartete auf die Fee mit den drei Wünschen.
Dann kam er in die Schule. Und die Scherze wurden gemeiner. Die Jungen aus der dritten und vierten Klasse beließen es auch nicht bei Wörtern. Nach dem Unterricht warteten sie auf ihn. Laut grölend jagten sie hinter ihm her und wenn sie ihn kriegten, schubsten sie ihn im Kreis herum. Wie ein Kegel fühlte er sich dann. Ein dummer Kegel, den alle einmal schubsen durften. Wenn er endlich hinfiel, ließen sie ihn einfach im Schmutz liegen. Falls sie ihn mal in der Pause hinter dem Fahrradhäuschen erwischten, dort, wo kein Lehrer je hinsah, dann schlugen oder boxten sie ihn. Natürlich hatte er das seinen Eltern erzählt. Seine Mutter hatte nur gefragt: „Na, du hast sie doch bestimmt geärgert, oder?“ Und sein Vater hatte ihm in die Schulter geknufft und gesagt: „Wehr dich, Junge! Du bist doch ein Junge, oder?“
Eines Tages haben seine Mitschüler Robins Brille kaputt gemacht. Dirk Meier hat einfach drauf getreten, als sie runtergefallen war. Robin sah ohne Brille schlecht. Wirklich schlecht. Alles war völlig verschwommen. Deshalb war er auch nicht sicher, ob es tatsächlich Dirk Meier war, der sie zerstört hatte. Aber es war garantiert seine Stimme, die sagte: „Wenn du das petzt, kriegst du richtig Prügel.“
Robin petzte nicht. Seiner Mutter sagte er mittags, er sei hingefallen. Sie gingen zu einem Optiker, denn ohne Brille war Robin hilflos. Blind wie ein Maulwurf, hatten die Jungen gebrüllt, als er tastend über den Schulhof lief. Aber er wusste, dass eines Tages die Fee kommen würde …
Aber die Fee kam nicht. Und auf die neue Brille musste er eine Woche warten. Eine Woche, in der die ganze Welt aussah, als würde er sie durch ein schmutziges Goldfischglas betrachten. Verbogen und unscharf. „Maulwurf! Maulwurf!“, riefen sie. Doch sie taten ihm nicht mehr weh. Erst mal nicht.
Endlich war seine neue Brille fertig. Endlich sah er wieder richtig. Als sie aus dem Geschäft kamen, entdeckte Robin ein Schild am Haus gegenüber. Eine geballte Faust in einem roten Kreis. Und darunter las er: Karateschule. Karate kannte er. Das hatte er einmal im Fernsehen gesehen. Wer Karate kann, dem kann keiner was anhaben. Wer gut in Karate ist, kann alle anderen zusammenschlagen, schoss es Robin durch den Kopf. Richtig gute Karatekämpfer können zehn Dachpfannen auf einmal zertrümmern. Das hatte er auch im Fernsehen gesehen.
„Mama, können wir mal da rüber gehen?“, fragte er. Neben dem Schild hingen Fotos von Kindern in Karateanzügen. Viele der Kinder waren so alt wie er. „Das würde dir wohl Spaß machen“, sagte seine Mutter, und Robin nickte still. Ja, das würde ihm Spaß machen. So einen schönen weißen Anzug tragen und zehn Dachpfannen zertrümmern. Und überhaupt richtig stark sein. Denn dass die Fee jemals kommen würde, daran glaubte er fast nicht mehr.
Die beiden gingen über eine schmale Eisentreppe im Hinterhof hinauf bis in die erste Etage. Schon hörten sie laute Schreie, voller Kraft und Wucht. Am Eingang begrüßte sie ein Mann. Er war Japaner und sehr klein. Robin fand es komisch, einen Erwachsenen zu sehen, der nur einen Kopf größer war als er selbst. Der Mann lächelte und stellte sich vor. Er hieß Herr Ogawa. Hinter ihm sah Robin den Übungsraum. Einige Männer kämpften miteinander. Aber nicht richtig. Sie stoppten ihre Schläge, bevor sie den Körper des anderen trafen. Doch die Schläge waren kurz, hart und genau. Und jedes Mal, wenn einer der Männer zuschlug, schrie er laut auf.
„Bitte Mama, ich will das lernen“, flehte Robin seine Mutter an. Die ließ sich von Herrn Ogawa erklären, was Robin alles brauchte und was das Training kostete. Als Robin das nächste Mal zu seiner Mutter aufblickte, sah er, dass sie ein Blatt Papier unterschrieb. Herr Ogawa kam auf ihn zu und sagte: „Schön, dass du bei uns mitmachst.“ Einen weißen Anzug mit Gürtel konnten sie gleich mitnehmen.
Abends saß Robin in seinem Zimmer, betrachtete den Anzug und dachte, wie schön es wäre, wenn er erst einmal so gut kämpfen konnte, wie die Männer in der Karateschule, Dann würde er es allen zeigen. Allen. Vor allen Dingen Dirk Meier. Er würde ihn so zusammenschlagen, dass er sich nie wieder trauen würden, Robin zu ärgern. Das Training begann am nächsten Nachmittag. Einer der größeren Jungen mit einem grünen Gürtel zeigte Robin, wie man den Gürtel richtig knotet. „Danke“, sagte Robin. „Ach was, man muss sich doch helfen.“
Stolz betrat Robin den Übungsraum. Er wollte lernen, wie man Dachpfannen zertrümmert. Doch zunächst mussten die Kinder Aufwärmtraining machen. Schweißüberströmt wartete Robin auf die Dachpfannen. Herr Ogawa aber stellte die Kinder paarweise auf. Robin kam mit dem Jungen, der den grünen Gürtel trug, zusammen. „Ich heiße Andi“, sagte der Junge. Robin nickte. Sein Herz schlug schneller. Jetzt würde er die Tricks lernen. Doch da hatte er sich schon wieder vertan. Andi sollte einen leichten Schlag gegen Robins Bauch führen, und Robin musste ihn abwehren. Wie, das zeigte ihm Herr Ogawa. Nachdem sie das bestimmt fünfzig Mal gemacht hatten, wurde es Robin langweilig. „Sag mal, lernen wir hier nicht, wie man Dachpfannen …“, wollte er gerade fragen, als Herr Ogawa zurückkam. „Zeigt es mir einmal“, sagte er. Robin und Andi führten die Übung vor. „Das ist noch lange nicht gut“, sagte Herr Ogawa und schob und zog an Robin, drückte den linken Arm dichter an seinen Körper und bog den rechten Arm weiter in die Luft. „Du musst dich genau konzentrieren, sonst lernt dein Körper nie“, sagte Herr Ogawa. Andi und Robin übten weiter.
Und so übten sie die nächsten Wochen. Genau so. Es gab keine Änderungen. Aufwärmtraining, dann Schläge gegen den Bauch abwehren. Jedes Mal, wenn Robin glaubte, es nun wirklich gut gemacht zu haben, zeigte ihm Herr Ogawa wieder einen Fehler und ließ die beiden weiter üben.
Mit der Zeit vergaß Robin die Dachpfannen. Er wollte nur ein Mal, ein einziges Mal, richtig abwehren. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als von Herr Ogawa gelobt zu werden. Aber Herr Ogawa sagte nichts. Aber mit Andi trainierte Robin gerne. Bald gingen sie gemeinsam nach Hause. Andi wohnte in Robins Nachbarschaft. Später fingen sie sogar an, sich einfach so zu treffen. Robin fürchtete nur, dass eines Tages die großen Jungen kommen und dass Andi dann mit ihnen fortgehen würde. Er war sicher, dass es genau so kommen würde.
„Du stehst gut“, sagte Herr Ogawa. Robin dachte erst, dass er jemand anderen meinte, doch Andi nickte ihm zu. Da drehte Robin sich um und sah Herrn Ogawa an. „Ja“, meinte der Karatelehrer, „noch nicht perfekt, aber schon sehr gut.“ Robin, der noch vor kurzem unbedingt Dachpfannen zertrümmern wollte, war plötzlich sehr stolz, einfach nur richtig stehen zu können. Es war das erste Mal, dass Herr Ogawa ihn lobte. Und als er an sich herunter sah, bemerkte er, dass er wirklich besser stand. Viel fester als früher. Die Füße standen so fest auf dem Boden, als wären sie die kräftigen Wurzeln eines Baumes. „Du gehst auch anders“, sagte Andi, als sie abends nach Hause gingen. „Meinst du?“, fragte Robin. Denn man selbst merkt ja gar nicht, wie man geht, weil man sich dabei so schlecht beobachten kann. ,Ja. Früher bist du geduckt gegangen und mit hängenden Schultern. Als hättest du immer Angst. Jetzt gehst du gerade.“ Vielleicht stimmte das. Vielleicht ließen ihn die anderen Kinder deshalb in Ruhe, dachte Robin. Schon seit einigen Wochen hatten sie ihn nicht mehr geärgert.
Beim nächsten Training sagte Herr Ogawa: „So, jetzt werdet ihr beide mal etwas Anderes machen.“ Und Robin dachte, dass er endlich lernen würde zu kämpfen. Doch es war nur eine ähnliche Übung: Jetzt musste Robin Andis Schlag gegen seinen Kopf abwehren. Eigentlich war es die gleiche Übung. Eigentlich war das alles ziemlich langweilig. Er war schon ein halbes Jahr dabei und hatte noch nicht ein Mal gekämpft. Immer nur abgewehrt.
Nach dem Training sagte Herr Ogawa: „Robin, was ist? Du siehst unzufrieden aus.“
„Wann lerne ich kämpfen?“, schoss es aus Robin heraus.
„Wenn du dich verteidigen kannst. Erst musst du richtig stehen und dich verteidigen. Dann lernst du den Rest. Vielleicht ist es in einem Jahr oder in zwei Jahren so weit.“ In zwei Jahren! Robin glaubte, sich verhört zu haben. „Was?!“ Doch Herr Ogawa ließ sich nicht beeindrucken: „Erst musst du dich verteidigen können. Dann kann dir keiner weh tun. Den Rest lernst du später.“
Woche um Woche wehrte Robin die Schläge gegen seinen Kopf ab. Er wurde besser. Sein Arm hatte den richtigen Winkel, die Füße standen sicher, sein Atem ging gleichmäßig.
Und sein Atem ging auch gleichmäßig, als eines Tages Dirk Meier und die anderen vor dem Schultor auf ihn warteten. „Du machst Karate?“ Dirk Meier lachte und kam auf Robin zu. „Dann zeig mal, was du kannst, Flasche!“
Und die anderen grölten: „Los, zeig’s dem Feuerlöscher!“ Robin sah ihm fest in die Augen, und sein Atem blieb so ruhig wie sein Herz. Dirk holte zu einem Schlag gegen Robins Bauch aus, doch schon schnellte Robins Arm hoch und führte Dirks Faust ins Leere. Dirk versuchte es mit der anderen Faust, wieder wehrte Robin den Schlag ab. Sein Arm schoss leicht nach oben, sein Fuß machte eine winzige Bewegung, und Dirk wäre von der Wucht seines eigenen Schlages fast hingefallen. Die anderen verstummten. Der nächste Schlag ging gegen Robins Kinn. Doch auch den wehrte er mit Leichtigkeit ab. Dieses Mal fiel Dirk wirklich hin. Die anderen kicherten. Dirk sprang auf und versuchte jetzt, Robin mit beiden Händen zu boxen. Er hatte keinen Erfolg. Dirk schwitzte und stöhnte, und Robin stand noch immer ganz ruhig.
„Los, Männer, helft mir!“, rief Dirk seinen Freunden zu. Die standen erst unschlüssig, gingen dann aber doch auf Robin zu. Gegen fünf hatte er sich noch nie verteidigt. Er wusste nicht, ob er das konnte. Trotzdem blieb er ruhig. Die anderen wurden unsicher. Damit hatten sie nicht gerechnet. Sie hatten erwartet, dass er brüllend weglaufen würde. „Los! Auf ihn!“, schrie Dirk.
„Lasst das lieber!“, ertönte eine Stimme hinter ihnen.
„Wer bist du denn?“, patzte Dirk den Jungen an.
„Andi. Robins Freund!“, sagte er.
„Kannst dir auch Prügel abholen“, drohte Dirk.
„Ihr könnt es gerne versuchen. Ich habe den grünen Gürtel“, antwortete Andi ruhig. Zwei Karatekämpfer erschienen Dirks Freunden dann doch etwas zu viel. Einer nach dem anderen verdrückte sich.
„Hey! Wo wollt ihr hin?“, rief Dirk ihnen hinterher. Dann sah er Andi und Robin an. Beide standen immer noch ruhig und gelassen vor ihm. Kalte Angst kroch in Dirks Rücken hoch, aber das wollte er lieber nicht zeigen. „Ihr Blödmänner“, grunzte er, nahm seinen Rucksack und verschwand ebenfalls.
Robin sah Andi an. „Danke. Ich weiß nicht, ob ich das allein geschafft hätte.“
„Ach. Dafür sind Freunde doch da, oder?“, sagte Andi, legte seinen Arm über Robins Schulter und gemeinsam gingen sie vom Schulhof.
Michael Engler
Quelle:
„Kleine Geschichten, die Kindern helfen sollen“
gondolino in der Gondrom Verlag GmbH, Bindlach 2004